Im Jahr 2020 feiert Deutschland 30 Jahre deutsche Einheit und 30 Jahre Demokratie, Pluralismus und Respekt in der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik. Selbst wenn eine Diktatur mit einem reichen Nachbarland mit einer gemeinsamen Geschichte und Sprache vereinigt wird, ist der Weg der Demokratisierung lang. Einer der Gründe für diese traurige Tatsache des Lebens ist die anhaltende Präsenz von Vertretern der alten Elite in den oberen Gesellschaftsschichten. Das Sozialkapital und der Opportunismus, der sie auch im alten System an die Spitze gebracht hat, ermöglicht es ihnen, trotz des Wandels der politischen Strukturen an der Macht zu bleiben. Die Entwicklung der Demokratie wird nicht nur durch die anhaltende Macht von Menschen beeinträchtigt, die letztlich selten durch demokratische Ideale motiviert sind, sondern auch dadurch, dass ihre Präsenz die Glaubwürdigkeit der Demokratie untergräbt, insbesondere in den Augen der Bürger, die sich einst über den politischen Wandel freuten. Auch dreißig Jahre nach der Wiedervereinigung ist die Hinterfragung der herrschenden Elite daher eine moralische Verpflichtung. Leider sind nicht viele bereit, diese Verantwortung zu übernehmen.
Die hier diskutierte Dissertation zum Thema Menschenrechte wurde 1987 an der Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft der DDR in Potsdam-Babelsberg geschrieben, begutachtet und veröffentlicht. In diesem Institut wurden Personen des Herrschaftssystems für Führungsaufgaben in der Verwaltung, im Rechtssystem und im Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der DDR vorbereitet. Nur systemtreue, überzeugte Parteimitglieder arbeiteten und studierten hier. Deshalb wurde das Institut fast unmittelbar nach dem Zusammenbruch der DDR geschlossen.
Die Akademie stand unter direkter politischer Kontrolle der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) und galt mit ihrem politisierten Lehrbetrieb bald als Quasi-Parteihochschule.[1] Auch die kommunistische Zeitung Neues Deutschland, in der Vergangenheit die Zeitung der SED, spricht 2008 von “der früheren Kaderschmiede” und erwähnt, dass „95 Prozent der Studentenschaft und des Lehrpersonals der SED angehörten“.[2] Außerdem stellt sie fest: „Dass in Babelsberg die Staatselite geformt wurde, zeigte sich auch in der finanziellen Ausstattung der Studenten.“ Die Studierenden bekamen ein Gehalt, eine Wohnung, gutes Essen und es gab sogar eine private Kinderkrippe.
Die streng abgeschottete, in 1953 gegründete Eliteschule bildete rechtssprechende Personen, DiplomatInnen und MinisterInnen aus. Insgesamt haben hier etwa 30.000 Menschen gearbeitet und studiert. Ehemalige Studierende sind unter anderem der ehemalige sächsische Ministerpräsident (2008 – 2017) Stanislaw Tillich (CDU), der ehemalige Brandenburger Wirtschaftsminister (2002 – 2009) Ulrich Junghanns (CDU), und der ehemalige Postdamer Oberbürgermeister (1990 – 1998) Horst Gramlich (SPD). Zahlreiche weitere Personen, die noch heute hohe Positionen bekleiden oder nach dem Fall der DDR innehatten, haben ihre Ausbildung in diesem Institut erhalten.
Dies ist sicherlich der Fall bei einigen heutigen rechtssprechenden Personen in Ostdeutschland. Sie haben an der Akademie eine besondere Botschaft vermittelt bekommen. “Unsere Juristen müssen begreifen”, zitiert Stefan Appelius den damaligen Chef der SED Walter Ulbricht, “dass der Staat und das von ihm geschaffene Recht dazu dient, die Politik von Partei und Regierung durchzusetzen.” Insbesondere rechtssprechende Personen in der DDR sollten “mit ganzem Herzen parteilich und leidenschaftlich” die “Sache des Sozialismus” vertreten. Im Richterwahlgesetz der DDR hieß es denn auch folgerichtig, so Appelius, dass nur “zuverlässige politische Funktionäre” als rechtssprechende Personen in Betracht gezogen wurden.[3] Eine wahrscheinliche langfristige Folge dieser Erziehung ist ein mangelndes Verständnis der individuellen Rechte, wenn nicht gar eine tiefe Missachtung dieser Rechte. Viele der rechtssprechenden Personen und Mitglieder der Anwaltschaft der DDR blieben auch nach der Wiedervereinigung im Amt: Von den 1780 rechtssprechenden Personen der DDR wurden 681 übernommen, von den 1238 StaatsanwältInnen 399. Die Unterschiede zwischen den Bundesländern sind allerdings groß: In Berlin behielten nur 11% der Richter ihren Arbeitsplatz, in Sachsen 49% (Müller, 2020: 381). Brandenburg ist eher mit Sachsen als mit Berlin vergleichbar.[4]
Wer genau am Institut studiert und gearbeitet hat, ist bis heute schwer recherchierbar. Wegen des “Persönlichkeitsschutzes” sind die Listen der ehemaligen Studierenden und Mitarbeitenden noch immer nicht öffentlich zugänglich. Viele Menschen haben gute Gründe über ihre Vergangenheit zu schweigen oder zu lügen. Die Tatsache, dass viele in vergleichbaren Positionen sind und auch über andere “etwas” wissen, ist eine mögliche Erklärung dafür, warum so vieles unter den Teppich gekehrt wurde.
Dies gilt auch für die vorliegende Dissertation. Es dauerte zwei Monate, um das allerletzte verfügbare Exemplar zu finden. Weitere Exemplare, die nach Ansicht des Bibliothekars der Humboldt-Universität in Universitätsbibliotheken vorhanden sein sollten, existieren nicht mehr.[5] Nie zuvor, so zeigen die Aufzeichnungen der Bibliothek, wurde die Dissertation ausgeliehen. Sie wurde im Februar 1987 verteidigt. Zu diesem Zeitpunkt war die Autorin, Frau Martina Weyrauch, erwachsen: Sie wurde am 3. August 1958 in Berlin geboren, war also 28 Jahre alt. Nach ihrer Promotion wurde sie Mitarbeiterin der Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft der DDR und gab u.a. eine weitere Publikation der Akademie heraus, die kurz vor dem endgültigen Zusammenbruch der DDR im November 1989 erschien.[6] Insgesamt dürfte sie fast ein Jahrzehnt an der Akademie geblieben sein.
Seit 2000 ist Frau Weyrauch Direktorin der Landeszentrale für politische Bildung in Brandenburg. Dort wird sie aller Voraussicht nach bis zu ihrer Pensionierung bleiben. Sie hat damit eine Position besetzt, die Inhalte und Richtung der politischen Bildung in Brandenburg maßgeblich mitbestimmt. In einer lebendigen Demokratie geht es um Pluralismus und den freien Wettbewerb der Ideen. Schon aus diesem Grund ist es fraglich, dass ein und dieselbe Person ein Vierteljahrhundert lang eine staatliche Einrichtung der politischen Bildung leiten kann. Wenn diese Person den Hintergrund von Frau Weyrauch hat, dann wird es mehr als fraglich. Deshalb verdient diese Dissertation von Frau Weyrauch mehr Aufmerksamkeit.
Eine Dissertation zur Unterstützung eines Unrechtsstaates
Menschen in der DDR, die an intellektuellen Aktivitäten interessiert waren, aber nicht wirklich an das System glaubten, hatten die Wahl, sich mit relativ sicheren Themen zu beschäftigen, die es ihnen ermöglicht hätten, ihre Distanz zum System zu wahren. Frau Weyrauch hielt dies offenbar nicht für notwendig. Das Thema ihrer Wahl waren die Menschenrechte in der DDR.
Ihr Bekenntnis zum System wird bereits im allerersten Satz ihrer Abhandlung deutlich, in dem sie Erich Honecker zitiert: “Das initiativereiche Herangehen der Sowjetunion an die weltpolitischen Fragen, ihre umfassenden Programme für die Befreiung der Welt von allen Atomwaffen bis zum Jahr 2000 und für die Schaffung eines Systems der internationalen Sicherheit, eröffnen eine neue Etappe in der Friedenspolitik der sozialistischen Staaten (Honecker, 1986 S.9).” Honecker, der von Beruf Dachdecker war, wird in der Dissertation, die eine akademische Abhandlung sein soll, durchgehend zitiert.
Die Doktorarbeit bietet “eine Analyse der Gesetzgebung und Rechtsprechung auf dem Gebiet des innerstaatlichen Strafrechts in Umsetzung völkerrechtliche Verpflichtungen“ (1987: 158). Die DDR, so soll die Analyse von Frau Weyrauch zeigen, ist weltweit führend in Bezug auf die Achtung der universellen Menschenrechte: “Aus der Analyse … hat sich ergeben, daß die DDR grundsätzlich, dem Artikel 8 der Verfassung entsprechend, ihren internationalen Verpflichtungen gewissenhaft nachkommt, ja teilweise, ihrem gesellschaftlichen Grundanliegen folgend: ‚Alle politische Macht in der DDR wird von den Werktätigen in Stadt und Land ausgeübt. Der Mensch steht im Mittelpunkt aller Bemühungen der sozialistischen Gesellschaft und ihres Staates‘ … über diese Mindeststandards hinausgeht“ (1987: 158).
Das Strafrecht der DDR, schreibt Frau Weyrauch, „schafft umfassenden Rechtsschutz gegen Folter und Sklaverei, und sichert gesetzlich, daß niemand willkürlich festgenommen oder verhaftet werden kann. Die Strafprozessualen Bestimmungen zur Sicherung der Interessen des Verhafteten und Festgenommenen und die damit verbunden Sorgfaltspflichten des Staatsanwaltes gehen über die internationalen Standards hinaus. Die Gleichheit vor dem Gesetz ist gewährleistet, Strafen im Sinne des sozialistischen Strafrechts, werden nur von Gerichten ausgesprochen…. Das Verfassungsrecht auf Glaubens-, Gewissens- und Religionsfreiheit sowie das Recht der freien Meinungsäußerung werden auch durch das Strafrecht der DDR geschützt und Verstöße gegen diese Grundrechte kriminalisiert“ (1989: 164).
Aber diese Freiheiten, erklärt Frau Weyrauch, sollten selbstverständlich ihre Grenzen haben: „Jedes Land hat das Recht im Interesse der Rechte der Bürger und zum Schutz der nationalen Sicherheit, der öffentlichen Ordnung und der Moral bestimmte Rechte zu beschränken. Davon macht das Strafrecht bei der Freizügigkeit innerhalb des Landes und der freien Meinungsäußerung Gebrauch. Es stellt auch die Missachtung der Genehmigungspflicht beim Passieren der Staatsgrenze der DDR unter Strafe. Diese Beschränkungen sind international legitim” (1987: 164).
Frau Weyrauch gibt zu, dass ihre Schlussfolgerungen auf einer Analyse von Gesetzen, theoretischen Diskussionen und rechtlichen Entscheidungen beruhen. Inwieweit dies alles die Realität widerspiegelt, muss noch erforscht werden. Sie ist anscheinend zuversichtlich, was das Ergebnis betrifft, da sie dies als wichtig erachtet, “um international überzeugend und offensiv auftreten (…) zu können” (1987: 165).
Inwieweit sind Individuen in einem totalitären Staat für ihre Handlungen persönlich verantwortlich? Frau Weyrauch hat zu diesen Fragen eine lobenswerte theoretische Position: “Jeder Mensch hat die Verantwortung, innerstaatlich gebotenes Verhalten, was die Begehung internationaler Verbrechen zur Folge hat, zu verweigern. Diese bewußte Entscheidung ist von jedem Menschen im Interesse der Wahrung der Existenz der Menschheit zu fordern. Jedes Individuum, welches diese Forderungen mißachtet, sieht sich einer internationalen strafrechtlichen Verantwortlichkeit gegenüber, die dem Interessenverstoß, den diese Verbrechen darstellen, entsprechen“ (1989: 166).
Dennoch ist aus völkerrechtlicher Sicht eine Aussage wie die folgende (es gibt viele andere) dann unentschuldbar: “In der DDR ist durch die Realisierung des Selbstbestimmungsrecht des Volkes, durch die Schaffung sozialistischer Produktions- und Machtverhältnisse und der damit verbundenen tatsächlichen gesellschaftlichen Freiheit der Ausgangspunkt für eine universelle Befreiung des Individuums auf ökonomischen, geistigen und politischen Gebiet errungen geworden. Die freie Entfaltung der Persönlichkeit jedes einzelnen Bürgers realisiert sich aber nur insoweit, wie er die ihm gegebene Möglichkeit nützt, sich im Sinne sozialistischer Demokratie zu engagieren und zu verwirklichen“ (1987: 123). Weyrauch zitiert erneut Erich Honecker, der erklärt hatte, dass „Menschenrechte in der entwickelten sozialistischen Gesellschaft keine Abwehrrechte gegen den Staat darstellen, sondern als Gestaltungsrechte zu begreifen sind“ (1989: 124).
Folglich ist der Einzelne frei, solange er diese Freiheit nutzt, sozialistisch zu denken, sich zu entwickeln und zu handeln, wie es der Staat und seine sozialistischen Institutionen definieren. Dies ist umwegig formuliert, aber schlussendlich eine Rechtfertigung für Totalitarismus, für den Bau von Mauern und die Erschießung derjenigen, die darüber klettern wollen, für die Inhaftierung der Andersdenkenden in Gefängnissen, psychiatrischen Kliniken und Umerziehungs-, Wiedereingliederungs- oder Rehabilitationszentren, für Unterdrückungseinrichtungen wie die Stasi, sowie für die ständige Überwachung der eigenen BürgerInnen. Diese Überwachung sollte zeigen, ob sie „wirklich“ damit beschäftigt sind, sich nach sozialistischen Prinzipien zu entwickeln; Prinzipien die vom Staat definiert und ihnen von all seinen Institutionen, einschließlich des Rechtssystems, aufgezwungen werden.
Was ist eine Promotionsarbeit?
Im letzten Jahrzehnt wurden in Deutschland nach mehreren Skandalen um hochrangige PolitikerInnen und FunktionärInnen viele Dissertationen neu geprüft. Mehrere Personen haben ihren Doktortitel verloren, nachdem diese Neubewertung gezeigt hatte, dass ein Minimum an akademischen Standards nicht eingehalten worden war. Es stellte sich heraus, dass Menschen sogenannte Ghostwriter eingestellt, plagiiert (manchmal in unglaublichem Ausmaß) oder Mindestanforderungen akademischer Integrität und Sorgfalt verletzt hatten.
Was können wir von einer Dissertation erwarten? Eine Dissertation sollte zeigen, dass die Person, die sie verfasst hat, in der Lage ist, kritisch zu denken und wissenschaftlich methodisch zu arbeiten. Sie sollten sich der einschlägigen Literatur, der verschiedenen Perspektiven und Diskurse zu ihrem Thema bewusst sein und die Fähigkeit und Bereitschaft haben, diese verschiedenen Ideen und Modelle auf ehrliche und fruchtbare Weise zu erörtern und zu bewerten, und dabei zu einer eigenen Position zu gelangen.
Die vorliegende Dissertation ähnelt in keiner Weise einer Dissertation, die an einer Universität in einer offenen, pluralistischen Gesellschaft geschrieben wurde. Sie zählt 221 Verweise auf DDR-Publikationen, zwei auf russische und einen Verweis auf ein englisches Working Paper (des ägyptischen Rechtsprofessors Cherif Bassiouni). Es werden keine alternativen Ideen, Ansichten oder Paradigmen berücksichtigt. Sie ist vollständig selbstreferentiell. Westliche (vor allem amerikanische) Gesellschaften werden vielfach angeprangert und beschimpft, aber dies kann nicht als akademischer Diskurs bezeichnet werden.
Ist die Dissertation von Frau Weyrauch eine Dissertation und sollte sie den Dr.-Titel verwenden dürfen? Im Jahr 2010 hat das Gericht in Potsdam diese Frage mehr oder weniger bereits beantwortet. Eine ehemalige Studentin der Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft der DDR war vor Gericht gegangen, weil sie wollte, dass der akademische Grad, den sie an der Akademie erhalten hatte, in ganz Deutschland (und damit auch in der Europäischen Union) akkreditiert wurde. Der Abschluss als Diplom-Staatswissenschaftlerin, den sie 1987 an der Akademie erworben hatte, entsprach ihrer Ansicht nach einem Diplom-Verwaltungswirt an einer westdeutschen Universität.
Um zu einer Entscheidung zu kommen, hatten die rechtssprechenden Personen den Lehrplan der Akademie genau unter die Lupe genommen: “Zum wesentlichen Studieninhalt gehörten die Fächer Marxistisch-Leninistische Philosophie, Wissenschaftlicher Kommunismus, Politische Ökonomie, Staats- und Rechtstheorie, Staatsrecht, Verwaltungsrecht der DDR, Staatliche Leitung der Volkswirtschaft, Wirtschaftsrecht der DDR, Arbeitsrecht der DDR, Agrarrecht, Gerichtsverfassungs- und Staatsanwaltschaftsrecht und Zivilrecht. Das Studium war darauf ausgerichtet, qualifiziertes Personal für höhere Aufgaben in der öffentlichen und kommunalen Verwaltung heranzubilden.“ Da das Wissen, das an der Akademie erworben wurde, nur für die DDR relevant war, waren die rechtssprechenden Personen der Meinung, dass der Abschluss nicht mit einem Universitätsabschluss gleichgestellt werden könne: “Der an der Akademie für Staat und Recht in Potsdam-Babelsberg angebotene staatswissenschaftliche Studiengang weise zwar Überschneidungen zu geläufigen verwaltungs-, rechts-, finanz- und politikwissenschaftlichen Fachrichtungen auf, bilde aber nach Anlage und Ausführung ein eigenständiges Ausbildungsangebot. Er sei keinem der im „Altbundesgebiet“ bekannten Studiengänge soweit angenähert, dass eine Gleichwertigkeitsfeststellung hierzu erfolgen könne. Insoweit verweise er auf die Entscheidung der Kammer vom 15. März 2005, Az.: 3 K 4176/98, der er sich vollumfänglich anschließe.“[7] Demzufolge wurde „[die] Klage (…) abgewiesen.“
Selbstverständlich können Menschen lernen und sich weiterentwickeln. Frau Weyrauch hat jedoch in den letzten 31 Jahren, trotz ihrer Position, keinen einzigen seriösen Artikel veröffentlicht. Von daher können wir nicht nachweisen, ob sich seit 1989 ihre Positionen verändert haben.
Vertuschung der Vergangenheit
Wie schon erwähnt, versuchen viele Menschen mit einer zweifelhaften Vergangenheit diese zu vertuschen. Dabei helfen ihnen die aktuellen “Datenschutzrechte” in Deutschland und die Tatsache, dass so viele andere etwas zu verbergen haben. So schweigen sie über Teile ihrer persönlichen Geschichte oder lügen einfach darüber. Nur ab und zu hat dies Auswirkungen. Ein aktuelles Beispiel dafür ist der Stadtsoziologe Andrej Holm, der 2017 für Die Linke (die Nachfolgepartei der SED) Unterstaatssekretär für Wohnungswesen in der Stadt Berlin wurde. Holm, 1970 geboren, ist der Sohn eines Stasi-Offiziers und war wenige Monate vor dem Zusammenbruch der DDR im Alter von 18 Jahren selbst Stasi-Kadett geworden. [8] Über diese Vergangenheit hatte er geschwiegen (allerdings nicht vollständig) und wurde deshalb weniger als einen Monat nach seiner Ernennung zum Staatssekretär entlassen. Außerdem wurde er von der Humboldt-Universität, seiner damaligen Arbeitgeberin, disziplinarisch bestraft und für zwei Jahre von seiner Stelle als Forschungsassistent suspendiert.
Frau Weyrauch hat ihre Vergangenheit immer wieder vertuscht, ohne dass dies irgendwelche Konsequenzen hatte. In einem Interview in der Tageszeitung hat sie sich kürzlich wie folgt beschreiben lassen: “Martina Weyrauch wurde 1958 in Ostberlin geboren und studierte Jura an der Humboldt-Universität. Sie promovierte in internationalem Straf- und Völkerrecht“.[9] In dem Interview beklagt sie sich übrigens über den mangelnden Respekt der Westdeutschen vor den Menschen im Osten: “Wir wussten, dass unsere Abschlüsse alle nichts wert sind. Ich als Juristin habe sofort 1990 ein halbes Jahr in Trier verbracht und mich dort in das Westrecht eingearbeitet. Mir war klar, dass ich mit meinem Abschluss nicht weit komme.“
Frau Weyrauch ist auch Mitglied des “Fachbeirats Gesellschaftliche Aufarbeitung/Opfer und Gedenken“ von der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Auf deren Website bietet sie diese Biographie an: „1958 in Ostberlin geboren, studierte nach einer Ausbildung zur Kleidungsfacharbeiterin, Rechtswissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin und promovierte 1986 zum Internationalen Strafrecht und Völkerrecht. Während der friedlichen Revolution war sie Mitglied in der Untersuchungskommission gegen Amtsmissbrauch, Korruption und persönliche Bereicherung“.[10] Sie erwähnt auch: „Nach verschiedenen Positionen in der brandenburgischen Landesverwaltung, unter anderem als persönliche Referentin des Ministerpräsidenten Manfred Stolpe, leitet sie seit Oktober 2000 die Brandenburgische Landeszentrale für politische Bildung.“
Frau Weyrauch arbeitete sechs Jahre lang für Manfred Stolpe (SPD), der zwischen 1990 und 2002 Ministerpräsident des Landes Brandenburg war und später wegen seiner DDR-Vergangenheit sehr umstritten wurde: Mehrere Untersuchungen machten deutlich,
dass er über einen langen Zeitraum nicht nur ein respektierter, verschriebener Partner des Regimes (das ihm 1978 die Verdienstmedaille der DDR verlieh), sondern auch ein wichtiger informeller Informant (IM) des Ministeriums für Staatssicherheit (STASI) gewesen war. Im Jahr 2011 kam eine Enquete-Kommission des Landtags von Brandenburg zu dem Schluss, dass er als Ministerpräsident hätte zurücktreten müssen und dass er aufgrund seiner eigenen Vergangenheit die “Aufarbeitung” der DDR in Brandenburg behindert habe. Brandenburg war der einzige Teil der ehemaligen DDR, der keinen Ausschuss zur Aufarbeitung seiner Vergangenheit und insbesondere der Vergangenheit seiner Regierungselite berufen hatte. Auch weil diese Elite in hohem Maße an der Macht bleiben konnte, erhielt Brandenburg den Spitznamen “die kleine DDR”.[11]
Rüdiger und Catenhusen schreiben, dass in der brandenburgischen Landesbürokratie nur in etwa der Hälfte der Fälle geprüft wurde, ob Mitarbeiter für das Ministerium für Staatssicherheit (Stasi) tätig waren. An der Spitze war es noch schlimmer: „Besonders fragwürdig erscheint, dass es in der Staatskanzlei nie eine umfassende Überprüfung gegeben hat, obwohl sie als Regierungszentrale das Aushängeschild der Landesregierung ist und damit eine besondere Vorbildwirkung bei der Vergangenheitsbewältigung haben müsste“ (2011: 37).
Wie auch ihre Mitgliedschaft in der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur zeigt, hat Frau Weyrauch die Angewohnheit, sich als Opfer nicht nur der BRD, sondern auch der DDR und als solidarische Verbündete anderer Opfer zu präsentieren. In einem Beitrag für eine Publikation von Gegenwind; Beratungsstelle für politisch Traumatisierte der SED-Diktatur, würdigt Dr. Martina Weyrauch die Arbeit dieser Organisation: „Sie beraten Menschen, die als politische Gefangene oder von Repressalien Bedrohte unter der DDR-Diktatur litten und von denen manche erst heute ihre Traumata aufarbeiten können. (…) Durch ihre Arbeit konnten Sie den Menschen den Glauben an ein normales Leben zurückgeben, Sie haben seelische Schmerzen verringern helfen und mit Ihrer Zugewandtheit Vertrauen nicht nur bei den Betroffenen erworben. Auch die Brandenburgische Landeszentrale für politische Bildung konnte in einigen Veranstaltungen auf Ihre reichen Erfahrungen im Umgang mit politisch Traumatisierten zurückgreifen. Dieses mit jeder Menge persönlichen Leids und nicht nachlassender politischer Brisanz verbundene Thema wird uns alle auch in den kommenden Jahren noch nicht loslassen. Wobei Institutionen wie der Ihrigen das Verdienst zukommt, endlich den Opfern mehr Raum gegeben zu haben als den Tätern“ (2013: 11).[12]
Hat eine Person, die ausdrücklich die intellektuelle Rechtfertigung für Verbrechen gegeben hat, das moralische Recht, für seine Opfer zu sprechen?
Welches Problem?
Frau Weyrauch hat sich in dem schönen Gebäude der Landeszentrale für politische Bildung in Potsdam verschanzt, umgeben von 10 weiteren Frauen aus Ostdeutschland. Sie ist stolz darauf, nur Frauen und obendrein nur Frauen mit DDR-Vergangenheit für die politische Bildung in Brandenburg gewonnen zu haben.[13] Jedes Jahr verteilt diese nächste “kleine DDR” rund eine halbe Million Euro
an etwa 200 Organisationen in Brandenburg, die alle froh sind, etwas zu erhalten oder hoffen, dass sie in der nächsten Runde etwas bekommen. Keiner von ihnen will das Boot schaukeln. Ein funktionierendes Kuratorium der Landeszentrale gibt es nicht. Im Oktober 2020 informierte die Website der Landeszentrale, dass das Kuratorium seit der Amtsübernahme der neuen Regierung Brandenburgs am 25. Oktober 2019 nur einmal getagt hatte (in Oktober 2020).[14] Informationen über die Aktivitäten des Kuratoriums sind nicht verfügbar. Auch die Dachorganisation, die Bundeszentrale für politische Bildung, hat keinen Einfluss auf die Außenstellen vor Ort.
Macht es etwas aus, dass jemand, der eine Dissertation zur Rechtfertigung des Totalitarismus geschrieben und seine Vergangenheit konsequent vertuscht hat, für ein Vierteljahrhundert in einem Bundesland der wichtigste Akteur der politischen Bildung ist?[15]
Außerschulische politische Bildung, die vom Staat organisiert und bezahlt wird, ist in Demokratien nicht üblich. Es ist eher widersprüchlich und beschwerlich, wenn die Bürger Hilfe vom Staat erhalten, um sie in die Lage zu versetzen, genau diesen Staat zu kontrollieren oder einzuschränken. Die meisten Staaten, auch demokratische, wollen nicht zu sehr von kritischen, informierten und aktiven Bürgern belästigt werden. Dies ist sicherlich in Entitäten wie Brandenburg der Fall, die nur eine sehr kurze demokratische Vergangenheit haben und in denen die reichhaltige politische Bildung zu DDR-Zeiten explizit auf die Erziehung fügsamer Untertanen ausgerichtet war. Wenn Staaten dennoch beginnen, ihren Untertanen zu mündigen Bürgern zu verhelfen, dann ist Wachsamkeit geboten. Welche Art von Hilfe erhalten diese Untertanen? Welche Art von Informationen wird verbreitet? Wer entscheidet auf der Grundlage welcher Kriterien, wer für welche Art von Aktivitäten Unterstützung erhält? Sicherlich kann es heute, wo so viele demokratische Institutionen im Niedergang begriffen sind, wichtige Gründe für die staatliche Unterstützung von politischer Bildung und Bürgerbeteiligung geben. Aber diese Unterstützung kann nur dann glaubwürdig und wirksam sein, wenn sie von Transparenz, Pluralismus, Aufrichtigkeit und vor allem Integrität begleitet wird. All dies gilt nicht für die Landeszentrale für politische Bildung in Brandenburg. Durch ihre bloße Anwesenheit untergräbt Frau Weyrauch jede Glaubwürdigkeit der staatlich geförderten politischen Bildung für Demokratie, Pluralismus und Respekt. Sie untergräbt nicht nur die Glaubwürdigkeit der Landeszentrale für politische Bildung, sondern des gesamten Sektors der zivilen Organisationen, die sich für Demokratie einsetzen, ja der Demokratie selbst. Es ist ein Schlag ins Gesicht all jener Menschen, die unter dem Totalitarismus leiden und gelitten haben, wenn sich solche Opportunisten auf solche Positionen begeben und sich in einem nächsten Schritt auf ihre Seite stellen. In einer offenen pluralistischen Gesellschaft sollte untersucht werden, warum sich niemand zu Wort gemeldet hat.
Nachwort: wie Deutschland mit schlechten Nachrichten umgeht
Im Laufe der Zeit ist die Tatsache, dass es fast unmöglich ist, die Öffentlichkeit in Deutschland über die politische Vergangenheit eines seiner Hauptakteure im Bereich der politischen Bildung zu informieren, interessanter geworden als diese Vergangenheit an sich. Wir boten die oben genannten Informationen einer langen Reihe von Zeitungen und Wochenzeitungen in Deutschland an, eine Reihe, die auch deshalb lang wurde, weil wir uns immer mehr dafür interessierten, wie die kontaktierten Journalisten reagieren würden. So haben wir die Informationen an Der Spiegel, Die Zeit, Die Frankfurter Allgemeine Zeitung, Die Süddeutsche Zeitung, Die Welt, Der Tagesspiegel, Die Tageszeitung und Der Freitag geschickt. Niemand reagierte, auch nicht, wenn sie über befreundete Journalisten oder hochrangige Politiker kontaktiert wurden (ein ehemaliger Justizminister eines Bundeslandes versuchte, eine Zeitung zu interessieren).
Die Redakteure all dieser Agenturen könnten sich mit der Behauptung verteidigen, dass sie täglich Tausende und Abertausende interessanter Dokumente auf ihren Tisch bekommen und dass sie unmöglich auf all diese Informationen reagieren können. Sie stellen diese Art von Nachrichten auch proaktiv auf ihre Websites. Dennoch boten wir die Informationen auch der New York Times und dem Guardian an, und in beiden Fällen antworteten die verantwortlichen Journalisten innerhalb von 2 Stunden. Wenn die beiden wohl renommiertesten Zeitungen der Welt die Zeit finden können, sich wieder mit einer kleinen NGO in Brandenburg zu beschäftigen, um über Informationen zu reflektieren, die für ihre internationalen Leser nicht von vorrangigem Interesse sind, warum ignorieren dann lokale deutsche Zeitungen wie Der Spiegel, Die Zeit oder Die Frankfurter Allgemeine diese Informationen vollständig?
Ist die deutsche Presse ein Teil der Machtstruktur?
Das ist eine faszinierende Frage. Es gibt wahrscheinlich mehrere Antworten. Zunächst einmal scheinen deutsche Journalisten mehr als in einigen anderen Ländern auf Vertreter der von Staat und Konzernen gebildeten Machtstruktur zu setzen, um “Nachrichten” zu bekommen. Journalisten sind weniger als anderswo versucht, in der Gesellschaft nach Informationen zu recherchieren, indem sie mit Durchschnittsbürgern und anderen Informationsträgern Kontakt aufnehmen, die nicht irgendwo eine “Position” haben und die nicht die dazugehörigen Titel, Büros und Uniformen haben. Stattdessen sprechen sie mit Menschen mit einer höheren Position im Staat oder in der Wirtschaft, wobei sie implizit davon ausgehen, dass Menschen, die keine solche Machtposition haben, keine relevanten Informationsquellen sein können. Hätten die Menschen etwas Interessantes zu sagen, wären sie Teil der Machtstruktur, nicht wahr? Der Kapitän von Köpenick lebt in Deutschland immer noch. Die Konsequenz ist, dass immer wieder dieselben Leute die Möglichkeit erhalten, ihre Fakten und Ansichten zu verbreiten, und dass das Machtgefüge ziemlich undurchdringlich und unerschütterlich ist.
Illustrativ ist eine aktuelle Studie von Das Progressive Zentrum. Die Autoren analysierten die Hintergründe der Personen, die in den letzten drei Jahren in den vier wichtigsten Talkshows des deutschen Fernsehens aufgetreten sind.[16] Dabei stellten sie unter anderem fest, dass zwei Drittel der Gäste Politiker und Journalisten[17] waren und dass weniger als 3% der Gäste die Zivilgesellschaft repräsentierten. Von den 3% zivilgesellschaftlichen Akteuren waren zwei Drittel Aktivisten. Vertreter von NGO’s hatten kaum Gelegenheit, sich zu Wort zu melden. 70% der Politiker waren auf nationaler Ebene aktiv, nur 7% auf europäischer und 2% auf kommunaler Ebene. Auch der Pool an Politikern, aus dem die Teilnehmer ausgewählt wurden, war unglaublich beschränkt: Es scheint, als zähle Deutschland nicht mehr als etwa 15 Politiker (das nationale Parlament hat allerdings bereits mehr als 700 Mitglieder).[18] Außerdem kamen 85% der Politiker aus Westdeutschland und nur 15% aus dem Osten. Von den zehn Gästen aus der Privatwirtschaft vertraten acht die Arbeitgeber. Gewerkschaften oder Verbraucherorganisationen erhielten kaum Gelegenheit, ihre Ansichten und Interessen zu vertreten, obwohl diese Institutionen bei den deutschen Bürgern hohes Ansehen genießen.
In einer unserer Umfragen haben wir 391 deutsche Bürgerinnen und Bürger gefragt, inwieweit sie der Aussage “Ich vertraue darauf, dass die Medien in Deutschland fair und ausgewogen über aktuelle gesellschaftliche Themen berichten” zustimmen. Die Ergebnisse waren alarmierend. Nur 3% der von uns befragten Personen stimmten der Aussage “voll und ganz zu” und nur 16% “stimmten zu”. Alle anderen waren sich nicht so sicher (40%), “stimmten nicht zu” (20%) oder “stimmten überhaupt nicht zu” (21%). Die Personen, die wir befragten, waren keine repräsentative Stichprobe der Bevölkerung. Schlimmer noch: Es handelte sich überwiegend um besser ausgebildete Sozialarbeiter, Beamte und Lehrer sowie um Jugendliche, die noch zur Schule gehen (21% der Gesamtzahl). Folglich traut nur ein kleiner Teil der deutschen Bevölkerung der Presse. Könnte dies etwas mit Repräsentation zu tun haben?
Die Presse in Deutschland scheint eine Art geschlossene Gesellschaft zu sein. Wenn selbst eine akademische Organisation wie Social Science Works, die die Art von Informationen anbietet, die ursprünglich das Thema dieser Geschichte bildete, einfach nicht mit einem deutschen Journalisten in Kontakt treten kann, welche Chance hat dann ein Durchschnittsbürger, der das Bedürfnis verspürt, etwas einer breiteren Öffentlichkeit zu vermitteln? Wie viele Diesel-Skandale warten noch auf uns? Wie oft werden die deutschen Medien noch völlig überrascht sein über das plötzliche Auftauchen von Tausenden von Menschen, die durch die Straßen marschieren und “Lügen Presse!” schreien. Offensichtlich ist diese Qualifikation völlig unangebracht, aber dennoch sollte man über die zugrunde liegende Frustration und Wut nachdenken. Vielleicht sollten deutsche Journalisten für eine Weile ihre sicheren Schreibtische verlassen und anfangen, mit normalen Bürgern zu sprechen. Dann werden sie vielleicht von den nächsten Demonstrationen und Wahlen weniger überrascht sein.
Solidarität mit weiblichen Mitmenschen, Ossi, Deutschen und Tätern.
Wahrscheinlich gibt es auch andere, eher politische Gründe, warum deutsche Journalisten sich weigern, über den stalinistischen Hintergrund eines seiner wichtigsten politischen Erzieher zu berichten, oder einfach wegschauen. Aufschlussreich war unsere kurze Korrespondenz mit einem Journalisten der linken Die Tageszeitung in Berlin. Die Kontaktaufnahme war auch in diesem Fall nicht einfach. Glücklicherweise haben wir einen Kumpel, die eine Freundin hat, die ehemalige Journalistin bei der TAZ war und die bereit war, in unserem Namen zwei ihrer ehemaligen Kollegen zu kontaktieren. Wie üblich hörten wir nie etwas von der TAZ, aber da wir sicher waren, dass die Journalisten die Informationen auf ihren Schreibtischen hatten, und da wir über ihre E-Mail-Adressen verfügten, konnten wir sie kontaktieren. Einer der Journalisten machte sich die Mühe, zu antworten, was in Deutschland schon etwas Besonderes ist. Sie schrieb, dass die politische Geschichte der Direktorin der Landeszentrale für politische Bildung “allgemein bekannt” sei. Deshalb sei es nicht opportun, ihr irgendwelche Aufmerksamkeit zu widmen.
Diese verärgerte Antwort machte es nicht besser. Sie löste nur viel mehr Fragen aus. Ich schrieb zurück:
“Erstens: Wenn man davon ausgeht, dass es tatsächlich allgemein bekannt ist, warum halten es die Menschen dann für akzeptabel, dass jemand mit dieser Vergangenheit so lange diese Schlüsselposition in der politischen Bildung innehat? Warum akzeptieren die Menschen, dass sie ihre Vergangenheit aktiv vertuscht hat und sich nie ehrlich mit dieser Vergangenheit auseinandergesetzt hat? Warum setzt niemand auf die Tagesordnung, dass die betreffende Person durch ihre bloße Anwesenheit jegliche Glaubwürdigkeit einer staatlich geförderten politischen Bildung für Demokratie, Pluralismus oder Toleranz untergräbt?
Zweitens, “allgemein bekannt” durch wen? Die TAZ hat die betreffende Person am 11. August 2018 interviewt. Warum hat die TAZ ihre Leser nicht angemessen über ihre Vergangenheit informiert? Die TAZ hat die Verfälschung ihres Hintergrunds einfach übernommen. Nirgendwo in dem Interview hat die TAZ sie mit ihren extremistischen politischen Ansichten und ihren opportunistischen Lügen darüber konfrontiert. Unkritisch ließ die TAZ zu, dass sie das Opfer spielte, wie sie es seit 1989 konsequent tut. Sie ist aber kein Opfer, sie ist eine Täterin. Die TAZ hat ihre Leser nicht informiert. Wie das Archiv der TAZ beweist, hat sie es auch vorher nie getan. Wenn man davon ausgeht, dass alle diese Leser bereits Bescheid wissen, wie können sie dann dieses Wissen erlangt haben? Warum hat die TAZ für ihre Leser entschieden, dass es für sie besser ist, bestimmte Fakten nicht zu kennen?”
Leider hat sich die Journalistin nie bei mir zurückgemeldet – deutsche Journalisten mögen es nicht, wenn jemand anders Fragen stellt.
Wie die vielen Funktionäre in Machtpositionen in Brandenburg, die schweigen, scheinen alle Journalisten, die wir kontaktiert haben, nicht das Boot wackeln lassen zu wollen, was ungewollt zeigt, dass sie die meiste Zeit im selben Boot sitzen. Offensichtlich ist dieses Schweigen kein einzigartiges Phänomen in Deutschland. Nach dem Zweiten Weltkrieg konnten sich viele Nazis einfach an der Macht halten, wie z.B. in der Justiz[19] und im Auswärtigen Amt[20], und nicht viele Journalisten machten sich die Mühe, etwas darüber zu recherchieren oder zu berichten.
Was könnte die Solidarität von Journalisten mit einer Person motivieren, die eine Vergangenheit hat, die es ihr niemals hätte erlauben dürfen, eine Schlüsselposition in der politischen Bildung einzunehmen? Eine erste Motivation könnte Sexismus sein. Deutsche Journalistinnen solidarisieren sich mit einer Frau, die es bis an die Spitze geschafft hat und es geschafft hat, keinen einzigen Mann in ihrer Organisation einzustellen. Deutsche Männer haben Angst, des Sexismus beschuldigt zu werden, wenn sie diese besondere Emanzipation kritisieren. Für deutsche Journalistinnen ist es so wichtig, dass Frauen auf ein Podium kommen, dass es keine Rolle spielt, wofür diese Frau steht. Ich halte diese Argumentation nicht nur für dumm und unmoralisch, sondern auch für schlicht sexistisch.
Eine zweite Motivation könnte die Solidarität mit einem Ossi sein, der es an die Spitze geschafft hat. Das kommt nicht oft vor. Daher schweigen andere Ossi, weil sie es für besonders wichtig halten, dass “einer von ihnen” auf einem Podium steht. Wessi, die von der Benachteiligung von Ossi in Deutschland wissen, schweigen, weil sie Angst haben, der Diskriminierung bezichtigt zu werden. Die Spannungen zwischen Ossi und Wessi sind schon groß, besser nicht anheizen. Wie die erste Motivation ist auch diese Art von Argumentation, oder besser: Gefühl, dumm und unmoralisch. Ich kenne ein paar Ossi, deren Familien durch das totalitäre System, für das Frau Weyrauch eine intellektuelle Rechtfertigung geliefert hat, zerstört wurden. Diese Menschen betrachten Frau Weyrauch überhaupt nicht als “eine von uns”. Sie ist eine von “denen” und ihre Anwesenheit in dieser Position wird als ein Schlag ins Gesicht empfunden.
Die dritte mögliche Motivation stellt “uns” Deutsche gegen “sie” Ausländer. Social Science Works besteht zu einem bedeutenden Teil aus Ausländern. Wir sind nicht nur aus Deutschland, sondern auch aus den USA, Kanada, Frankreich, Spanien, Griechenland, England, Syrien, den Niederlanden, Indonesien, Israel, der Türkei, Indien, Italien, Brasilien, Dänemark und Singapur. Der Autor dieser Zeilen ist Niederländer. Einige Einheimische scheinen zu denken, dass es nicht unsere Angelegenheit ist. Es ist eine deutsche Angelegenheit, oder sogar nur eine brandenburgische. Die betreffende Person mag ein Arschloch sein, aber es ist UNSER Arschloch. Nochmals: eine dumme und unmoralische Argumentation. Im Rahmen der Europäischen Union kritisiert Deutschland gerne Mitgliedsstaaten wie Polen und Ungarn; im Rahmen der Vereinten Nationen kritisiert Deutschland Länder wie China, Brasilien oder Venezuela. Das macht Deutschland völlig zu Recht. Wir unterstützen das von Herzen. Aber dann akzeptieren Sie auch, dass wir Ausländer, jedenfalls wenn wir in Deutschland Steuern zahlen, jedes Recht haben, den deutschen Staat, seine Institutionen und die dort arbeitenden Menschen zu kritisieren. Wenn die Deutschen damit nicht zurechtkommen, können sie dann bitte aus der Europäischen Union und den Vereinten Nationen austreten? Die Menschenrechte sind universell, ebenso wie der Kampf für sie. In diesem Zusammenhang: Wir arbeiten fast täglich mit Opfern totalitärer Staaten, die in die Europäische Union und nach Deutschland geflohen sind. Wir wissen ein bisschen, wie diese Staaten funktionieren. Und wir mögen keine Opportunisten, die totalitäre Staaten rechtfertigen, schon gar nicht, wenn sie auf dem gleichen Gebiet tätig sind wie wir.
Eine Frage, die immer wieder gestellt wird, ist: “Was wollen Sie mit diesem Artikel erreichen, was ist das Ziel?” Irgendwie verstehe ich diese Frage nicht. Brauche ich einen funktionellen Grund dafür? Was ist mit der Wahrheit? Reicht das nicht?
Zum Schluss: Angst motiviert sicherlich auch Menschen. Wir sind von mehreren Personen, die alle gute Absichten gegenüber dem SSW haben, darauf hingewiesen worden, dass das Leben für den SSW in Brandenburg vorbei wäre, wenn wir unsere Ergebnisse veröffentlichen würden. Zu viele Menschen mit vergleichbarem Hintergrund in einflussreichen Positionen würden die Reihen schließen. Einen Vorgeschmack darauf haben wir in der Tat schon bekommen. Es ist hirnrissig, dass diese Überlegung im Jahr 2020 in einem Mitgliedsland der Europäischen Union formuliert werden kann. Wie kann man von uns erwarten, dass wir uns an die Sitten eines totalitären Staates anpassen, der vor drei Jahrzehnten aufgehört hat zu existieren? Wie ist es möglich, dass diese Sitten heute noch eine Rolle spielen können? Umso mehr ein Grund, endlich aufzuräumen.
Anmerkungen
[1] Ralph Jessen: Akademische Elite und kommunistische Diktatur. Die ostdeutsche Hochschullehrerschaft in der Ulbricht-Ära, Göttingen 1999, S. 137.
[2] Wilfried Neiße 2008. Gras wächst über DDR-Akademie Gebäude der Kaderschmiede in Potsdam-Babelsberg sind Schutthaufen. Neues Deutschland 13.05.2008.
[3] Appelius, Stefan. 2009. DDR-Kaderschmiede; Denken, aber richtig! Der Spiegel, 29.08.2009. Im DDR-Lehrbuch „Grundlage der Rechtspflege“ unter der Kapitelüberschrift „Gerichte als rechtsprechende Organe“ hat man es so formuliert: „Die Organe der Justiz sind Teile des Staatsapparates, und deshalb gelten alle Anweisungen, Maßnahmen, Beschlüsse der Partei, die sich auf den Staatsapparat beziehen, unmittelbar auch für die Genossen im Justizapparat… Die Aufgabe, die revolutionären Errungenschaften zu stützen und zugleich Werkzeug der Erziehung zur Disziplin zu sein, prägt die Rolle des sozialistischen Gerichts.“ Zitiert in: Der Aufbau der Justiz im Land Brandenburg seit 1990. Der Autor, Wolf Kahl, bemerkt: „Von dieser Rechtskultur war Praxis und Ausbildung des Nach-wuchses über Jahrzehnte geprägt. Das darf man nie vergessen.“ https://brb.bdr-online.de/images/stories/2008/aufbau_justiz_brb_1990.pdf. Siehe auch: Müller, Ingo. 2020. Furchtbare Juristen: Die Unbewältigte Vergangenheit der Deutschen Justiz. Berlin: Tiamat. Pp. 375-81.
[4] Legner, Johann. 2011. Belastete DDR-Juristen. Potsdamer Neueste Nachrichten. 30 Mai 2011. https://www.pnn.de/brandenburg/belastete-ddr-juristen-gebrauchte-richter/21959234.html ; Fröhlich, Alexander. 2011. Rechtsbeuger im Rechtsstaat. 13 Mai 2011. Potsdamer Neueste Nachrichten. https://www.pnn.de/brandenburg/rechtsbeuger-im-rechtsstaat/21965196.html
[5] „nach Rücksprache mit weiteren Kolleginnen in der Bibliothek, es gibt nur dieses eine Exemplar an der Universität Potsdam. Im Normalfall hätte noch mindestens ein Exemplar nach Leipzig (Nationalbibliothek) und ein Exemplar an die Humboldt-Universität (Sondersammelgebiet) abgegeben werden müssen. Es gab auch zu DDR-Zeiten eine Pflichtabgabe. Inhaltlich ist diese Dissertation also sehr “interessant”. (persönliche Korrespondenz).
[6] Weyrauch, M. (bearb). 1989. Die internationalen Verbrechen und das innerstaatliche Strafrecht, Probleme des internationalen Strafrechts und Strafprozessrechts. Potsdam-Babelsberg: Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft der DDR. In the Autorenverzeichnis (Seite 171) wird Frau Weyrauch präsentiert als Mitarbeiterin der „Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft der DDR; Sektion Straf-, Zivil-, Arbeits- und Agrarrecht.“
[7] VG Potsdam, Urteil vom 18.05.2010 – 3 K 803/06; https://openjur.de/u/282469.html.
[8] Maroldt, Lorenz and Christoph Twickel. 2016. Andrej Holm: „Hätte ich das geahnt, hätte ich mir überlegt, ob ich den Job mache”. Die Zeit. 23 Dezember 2016.
[9] „Politische Bildung in Brandenburg: „Die Auseinandersetzung suchen“. Die Tageszeitung (TAZ). 11 August 2019. https://taz.de/Politische-Bildung-in-Brandenburg/!5614391/
[10] https://www.bundesstiftung-aufarbeitung.de/de/stiftung/gremien/martina-weyrauch
[11] Rüdiger, Gisela and Hans-Christian Catenhusen. 2011. Personelle Kontinuität und Elitenwandel in Landtag, Landesregierung und -verwaltung des Landes Brandenburg. Potsdam: Landtag Brandenburg. Diese Historiker schreiben, unter Anderem: „Innenminister Dr. Dietmar Woidke stellte mit Blick auf die prominenten Stasi-Fälle in der Polizei des Landes Brandenburg fest, auch er sei „mitunter überrascht, welche Leute nach 1990 eingestellt wurden und auf welche Positionen sie gelangt sind.“ Die Gutachter haben einige Begründungsansätze für diese aus ihrer Sicht nachvollziehbare Einschätzung entwickelt: In der Landesverwaltung hat es seit 1990 kein zentral geregeltes Stasi-Überprüfungsverfahren gegeben…“ (2011: 37). Sehe auch: Dassler, Sandra. 2011. Manfred Stolpe: In der Pflicht der Deutsch-Deutschen Geschichte. Die Zeit. 15 Juli 2011. https://www.zeit.de/politik/2011-07/portrait-manfred-stolpe/komplettansicht ; https://de.wikipedia.org/wiki/Manfred_Stolpe.
[12] https://www.beratungsstelle-gegenwind.de/wp-content/uploads/2018/08/Festschrift_GGW_15Jahre-2.pdf
[13] „Wir sind sozusagen ein kleines feines Haus mit insgesamt zehn Personen, die hier für politische Bildung verantwortlich sind, sind alles ostdeutsche Frauen, die sich hier im Westen in der Besten-Auslesung durchgesetzt haben und hier politische Bildung gestalten (https://www.deutschlandfunk.de/politische-bildung-in-brandenburg-ueberparteilichkeit-darf.680.de.html?dram:article_id=457122). https://www.politische-bildung-brandenburg.de/system/files/document/jahresbericht2019netz.pdf ; https://www.politische-bildung-brandenburg.de/ansprechpartner
[14] https://www.politische-bildung-brandenburg.de/kuratorium-der-landeszentrale
[15] Das Bildungsministerium von Brandenburg schreibt auf seiner Website: „Die Brandenburgische Landeszentrale für politische Bildung (BLzpB) ist die zentrale Einrichtung für politische Bildung im Land Brandenburg und will Bürgerinnen und Bürger ermutigen, sich stärker in die Gesellschaft einzubringen. Ihre Arbeit ist überparteilich ausgerichtet“ (https://mbjs.brandenburg.de/wir-ueber-uns/nachgeordnete-behoerden-und-einrichtungen/landeszentrale-fuer-politische-bildung.html).
[16] Fröhlich, Paulina and Johannes Hillje. 2020. Die Talkshow-Gesellschaft. Repräsentation und Pluralismus in öffentlich-rechtlichen Polit-Talkshows. Berlin: Das Progressive Zentrum.
[17] Journalisten, die andere Journalisten interviewen, sind zunehmend zur Routine geworden, nicht nur in Deutschland. Dieses peinliche Phänomen zeigt auch den nach innen gerichteten Charakter dieser Berufsgruppe.
[18] Siehe zum Beispiel: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/169412/umfrage/meisteingeladene-gaeste-in-talkshows/. Fabian Goldmann schreibt auf der Webseite von der (ausgezeichnete) öffentliche Sender Deutschlandfunk Kultur: „Weiß, männlich, westdeutsch und ohne Migrationserfahrung. So sah auch im Jahr 2019 der Prototyp des Talkshowgastes aus. Gerade einmal jeder 20. deutsche Gast wurde im Ausland geboren. Auf Menschen aus Ländern, die in den letzten Jahren im Fokus der Migrationsdebatte standen, wartete man völlig vergebens.“ https://www.deutschlandfunkkultur.de/gaeste-in-tv-talkshows-mehr-vielfalt-bei-der-auswahl-bitte.1005.de.html?dram:article_id=469238
[19] Im dritten Teil seines Buches Furchtbare Juristen: Die unbewältigte Vergangenheit der deutschen Justiz (Berlin: TIAMAT. 2020) zeigt der Historiker Ingo Müller die unglaubliche Kontinuität im deutschen Rechtssystem nach 1945. 1949 waren z.B. 81% der Richter und Staatsanwälte in Bayern Nazis (2020: 257). Gemeinsam machten sie es Menschen mit anderer politischer Gesinnung sehr schwer, in diesem System Karriere zu machen. Weiter oben in diesem Artikel habe ich bereits Müller zitiert, um auf die vergleichbare Kontinuität in Ostdeutschland, nach dem Zusammenbruch der DDR 1989, hinzuweisen.
[20] Als 1951 das Auswärtige Amt neu gegründet wurde, waren etwa 40 % der Mitarbeiter dieses Ministeriums Mitglied der NSDAP gewesen. Es dauerte bis 2005, bis das Ministerium eine Historikerkommission beauftragte, die eigene Vergangenheit zu erforschen. Die Studie wurde 2010 veröffentlicht und räumte unter anderem mit dem Mythos auf, das Auswärtige Amt sei ein Zentrum des Widerstands gegen den Nationalsozialismus gewesen und habe traditionelle, aristokratische deutsche Werte hochgehalten. Siehe: Conze, Eckart, Norbert Frei, Peter Hayes und Moshe Zimmermann. 2010. Das Amt und die Vergangenheit: Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik. München: Karl Blessing Verlag.