Hans Blokland & Paola Perrin De Brichambaut

Demokratische Institutionen verlieren für eine wachsende Zahl von Bürger:innen auf der ganzen Welt an Bedeutung. In den letzten Jahrzehnte drehten sich viele der akademischen Debatten in den westlichen Sozial- und Politikwissenschaften und der Philosophie um Begriffe wie Bürgerbeteiligung, sozialer Zusammenhalt, Sozialkapital, Vertrauen oder Deliberation (Blokland 2006, 2016). Diese Forschungen deuten auf den Rückzug vieler Bürger:innen aus sozialen und politischen Aktivitäten und auf mangelndes Verständnis sozialer, wirtschaftlicher und politischer Prozesse und Strukturen bei einem großen Teil der Bevölkerung, die immer anfälliger für einfache Antworten auf komplizierte Herausforderungen wird. Diese Trends unterstreichen die dringende Notwendigkeit, neue Wege für eine sinnvolle Beteiligung der Bürger:innen am gesellschaftlichen und politischen Geschehen zu finden. Diese Formen der Beteiligung sollten die politischen Kompetenzen und das Gefühl der politischen Gemeinschaft stärken, die für ein sachkundiges und zielgerichtetes politisches Handeln erforderlich sind. Solche politische Kompetenzen stärken auch die Fähigkeiten der Bevölkerung, den Wahrheitsgehalt der ständig zunehmenden Medien und Informationen zu beurteilen, die darauf abzielen, ihre Meinungen und ihr Verhalten zu beeinflussen.

Die Europäische Union leidet unter einer schwindenden Legitimität, die durch populistische Parteien in ganz Europa, die sie ins Visier genommen haben, angeheizt wird. Der Brexit könnte weitere Austritte nach sich ziehen, die das europäische Projekt schwächen würden. Für diejenigen, denen die europäische Idee am Herzen liegt, ist es daher von großer Bedeutung, eine kritische und informierte Debatte über die Werte, Ziele, Instrumente und die Funktionsweise der Europäischen Union zu fördern.

Ziel des Projekts “Unser Europa für alle” von Social Science Works war es, zu erforschen, was die europäische Bürgerschaft für junge Menschen (15-19 Jahre) in Berlin und Brandenburg bedeutet. Mit Hilfe von Workshops in Schulen wollte Social Science Works junge Menschen über die Entscheidungsprozesse in der Europäischen Union aufklären und einen Raum schaffen, in dem sie ihre Sorgen, Ideen und Hoffnungen für die Zukunft der Europäischen Union diskutieren und über die Rechte und Pflichten der europäischen Bürger:innen nachdenken konnten. Im Laufe von sechs Monaten organisierte Social Science Works neunzehn deliberative Workshops mit Klassen der Jahrgangsstufen 10 bis 13 in Berlin und Brandenburg und erreichte damit über 300 Schüler:innen. In diesen Workshops setzten sich die Schüler:innen mit den Ideen und Werten auseinander, die dem europäischen Projekt zugrunde liegen, lernten die politischen Prozesse der Europäischen Union kennen und tauschten sich über ihre Ideen, Hoffnungen und Sorgen für die Zukunft der Europäischen Union aus. Sie diskutierten über Politikbereiche, die ihnen am Herzen lagen, und schlugen politische Maßnahmen und Rechtsvorschriften vor, die ihrer Meinung nach die Europäische Union stärken und ihre Zukunft sichern würden.

Der vorliegende Artikel versucht, diese Ergebnisse zu skizzieren und einen Einblick in die Haltung einer jungen europäischen Bevölkerungsgruppe gegenüber der Europäischen Union, ihr Verhältnis zum Begriff der Unionsbürgerschaft und zu Formen der demokratischen Beteiligung zu geben. Er fasst zunächst das Projekt und die Erfahrungen von Social Science Works mit deliberativen Workshops als Instrument zur Stärkung des bürgerlichen Bewusstseins und Engagements zusammen. Der Artikel geht dann auf die Ergebnisse der Umfrage ein, die wir während der Workshops durchgeführt haben, und analysiert sie parallel zu den Diskussionen, die während der Treffen stattfanden.

Mehrere Mitglieder von Social Science Works waren an diesem Projekt beteiligt. Das Projekt wurde von den beiden Autoren entwickelt. Die Rekrutierung der Schulen wurde hauptsächlich von Paola Perrin mit der Unterstützung von Stavroula Kapsogeorgi durchgeführt. Der Forschungsteil wurde hauptsächlich von Hans Blokland mit der unschätzbaren Unterstützung von Yusril Nurhidayat, Sahba Salehi und Paola Perrin durchgeführt. Die Workshops wurden von Paola Perrin und, in geringerer Zahl, von Hans Blokland, Mirjam Neebe und Philipp Bautz gehalten. Yusril und Sahba leisteten technische Unterstützung. Die Zusammenarbeit von Personen mit sechs verschiedenen nationalen Hintergründen erwies sich wie so oft als sehr fruchtbar und entsprach den Zielen des Programms Erasmus+.

I – Das Projekt

Social Science Works ist ein Sozialunternehmen mit Sitz in Potsdam, das sich zum Ziel gesetzt hat, sozialwissenschaftliche Erkenntnisse zur Verbesserung der Zivilgesellschaft und der demokratischen Entscheidungsfindung zu nutzen. Zu den Kernkompetenzen von Social Science Works gehören deliberative Integrations- und Demokratieprojekte sowie Demokratieforschung. Die “Unser Europa für alle”-Workshops wurden von Social Science Works Mitglieder:innen geleitet, die Schüler:innen im deliberativen Austausch geschult und begleitet haben. Wir verstehen Deliberation als einen offenen und konstruktiven Austausch von Ideen und Werten, der das Entdecken, Verstehen, Kontextualisieren und Entwickeln von Präferenzen fördert. Bei der Deliberation geht es nicht darum, unbestrittene, festgelegte Präferenzen Einzelner in kollektive Entscheidungen und Politiken zu überführen, sondern vor allem um die gemeinsame Entwicklung begründeter Präferenzen im Hinblick auf das öffentliche Anliegen.

Während der Deliberationsworkshops füllten die Schüler:innen auch eine Umfrage aus, um Einsicht in ihr Verständnis und ihre Vorstellungen von der Europäischen Union, ihrer Identität in Bezug auf die Europäische Union und ihrer Wünsche für ihre Zukunft zu bekommen. Die Ergebnisse der Diskussionen und der Umfrage dienten schließlich der Vorbereitung einer Konferenz, an der Schülervertreter:innen jeder Schule und die Europaabgeordneten für Berlin und Brandenburg teilnahmen und bei der die Schüler:innen den Politiker:innen ihre Ideen und Anliegen vorstellten.

Design der Workshops und der Umfrage

Die Workshops wurden anhand einer interaktiven Umfrage auf der Online-Plattform Mentimeter gestaltet. Diese Umfrage war in drei Teile gegliedert:

  1. die Europäische Union und ihre Werte,
  2. demokratische Partizipation in der Europäischen Union,
  3. die Zukunft der Europäischen Union.

Zunächst stellten wir einige Fragen, um das Faktenwissen der Teilnehmer:innen über die EU zu testen. Es folgten Fragen zu den legislativen und politischen Verfahren der EU und zu den Möglichkeiten der politischen Beteiligung von Bürger:innen in der EU. Im letzten Teil der Umfrage wurden Daten zu den Vorstellungen und Wünschen der Teilnehmer:innen für die Zukunft der EU gesammelt. Einige der Fragen im letzten Teil der Umfrage spiegelten die Eurobarometer-Umfrage zur Zukunft Europas wieder und ermöglichten somit den Vergleich der Ergebnisse einer bestimmten regionalen Bevölkerungsgruppe (15- bis 19-Jährige in Berlin und Brandenburg) mit einer größeren Datenbank, die sowohl auf EU- als auch auf nationaler Ebene erhoben wurde.

Die Mentimeter-Plattform lädt die Teilnehmer:innen dazu ein, ihre Antworten direkt in ihr Mobiltelefon einzugeben. Die Ergebnisse wurden anschließend an die Wand projiziert und in der Gruppe diskutiert. Um eine gegenseitige Beeinflussung der Befragten zu vermeiden, sahen die Teilnehmer:innen die Ergebnisse erst, nachdem alle ihre Antworten eingesandt hatten. Die deliberativen Diskussionen wurden somit von den Fragen der Umfrage und den Antworten der Teilnehmer:innen geprägt. Die Teilnehmer:innen wurden gebeten, die Ergebnisse gemeinsam zu analysieren und zu erörtern, warum sie auf eine bestimmte Weise geantwortet hatten, und ihre Meinungen und Gefühle eingehender zu begründen. Der Quizcharakter der Workshops hielt die Aufmerksamkeit der Teilnehmer:innen aufrecht, und viele Schüler:innen äußerten sich positiv über die Gestaltung der Workshops und ihr interaktives Format.

Rekrutierung der Schulen

Unser Ziel war es, Schüler:innen aus der Metropole Berlin und dem ländlichen Brandenburg sowie Schüler:innen verschiedener Bildungseinrichtungen zu erreichen. Da Bildungskarrieren insbesondere in Deutschland stark von der sozialen Herkunft bestimmt werden (Pfeffer 2008; Maaz 2020), erhofften wir uns durch den Besuch verschiedener Typen von Bildungseinrichtungen, unterschiedliche soziale Schichten zu erreichen. Diese Ambitionen erwiesen sich als weitgehend aussichtslos. Die Pandemie stellte für die Suche nach teilnehmenden Schulen eine besondere Herausforderung dar, da die Schulverwaltungen aufgrund der Ungewissheit über das kommende Schuljahr, nicht bereit waren, einen Workshop einzuplanen. 138 Schulen wurden ab April 2021 kontaktiert, um Workshops für das folgende Schuljahr zwischen Ende August und Anfang November zu planen. Die meisten Schulen reagierten nicht auf E-Mails, und wenn sie telefonisch erreicht wurden, baten sie häufig darum, Anfang August erneut kontaktiert zu werden. Nach sehr geringem Erfolg trudelten schließlich einen Monat nach Beginn des Schuljahres erste positive Rückmeldungen ein, vermutlich weil die Schulen einen Einblick in ihre Arbeitsweise nach den neuen Gesundheitsprotokollen gewonnen hatten.

Von den 85 Schulen, die in Brandenburg kontaktiert wurden, akzeptierten nur zwei unsere Einladung. Die Mehrheit der Schulen antwortete nicht, aber unter denjenigen, die unsere Einladung ablehnten, begründeten viele Schulleiter:innen ihre Entscheidung mit dem Zeitverlust, der durch den Fernunterricht entstanden war, und mit dem Druck und der Notwendigkeit, die Lehrpläne aufzuholen und einzuhalten. Andere drückten ihr Desinteresse an dem Projekt und an Bildungsprogrammen über die Europäische Union aus und erklärten, ihre Schüler:innen seien nicht an Politik interessiert. Ähnliche Antworten erhielten wir von vielen nicht-gymnasialen Schulen. In Berlin wurden 53 Schulen kontaktiert, von denen 12 rekrutiert werden konnten, wobei einige von ihnen um die Organisation mehrerer Workshops baten. Folglich war die Mehrheit der etwa 30 kontaktierten Berliner Gymnasien mit Schüler:innen aus oft schon privilegierten Verhältnissen bereit, teilzunehmen, und die etwa 110 Schulen in ländlichen oder benachteiligten Gebieten mit Schüler:innen, die am meisten von dem Projekt hätten profitieren können, haben nicht geantwortet oder teilnehmen wollen. Die hier präsentierten Daten spiegeln also in erster Linie das Wissen, die Vorstellungen und die Einstellungen der Berliner Gymnasiasten wider, was sie leider einschränkt. Social Science Works musste sich letztendlich stark auf motivierte Lehrkräfte verlassen, die die Chance für ihre Schüler:innen wahrnahmen, über die Zukunft der Europäischen Union nachzudenken und an einer Konferenz mit europäischen Entscheidungsträger:innen teilzunehmen.

Insgesamt gelang es Social Science Works, 19 Workshops in 14 Schulen durchzuführen, die mehr als 300 Schüler der Klassen 10 bis 13 erreichten. Insgesamt 320 Schüler aus 14 verschiedenen Schulen haben die Umfrage ganz oder teilweise ausgefüllt. In letzterem Fall wurden ihnen die Fragen aus Zeitgründen nicht vorgelegt. Nur in wenigen Fällen wurden Fragen unbeantwortet gelassen. Zwölf Schulen befanden sich in Berlin, eine in Potsdam und nur eine in Brandenburg (in Nauen). Von den teilnehmenden Schulen waren sieben Gymnasien, drei Oberstufenzentren, drei Oberschulen und eine Gemeinschaftsschule.

Workshops

Wie bereits erwähnt, bestanden die Workshops aus drei Teilen. Im ersten Teil der Workshops ging es darum, das europäische Projekt und seine Geschichte zu erörtern, die Werte, die die Schüler:innen mit der Europäischen Union verbinden zu besprechen, und über den Einfluss, den die Europäische Union ihrer Meinung nach in ihrem Alltag und in verschiedenen Politikbereichen (Umwelt, Landwirtschaft, Migration, Wirtschaft und Industrie, Sozialpolitik, Justiz) hat, nachzudenken. Im zweiten Teil wurde untersucht, wie sie die Entscheidungs- und Gesetzgebungsverfahren in der Europäischen Union verstehen und wie sie sich selbst innerhalb dieser Verfahren positionieren, wie viel Einfluss sie ihrer Meinung nach auf diese Prozesse haben, wie gut sie die politischen Herausforderungen der EU verstehen und welche Instrumente ihnen zur Verfügung stehen, um sich am demokratischen Prozess zu beteiligen. Der letzte Teil des Workshops sollte den Teilnehmer:innen eine Plattform bieten, um ihre Ideen und Wünsche für die Zukunft der EU mitzuteilen, welche Bereiche sie für besonders wichtig halten, was ihrer Meinung nach die größten kommenden Herausforderungen für die EU sind und welche Werte sie auf europäischer Ebene gestärkt sehen möchten.

Die meisten Workshops waren dynamische Veranstaltungen, bei denen die Schüler:innen mit großem Enthusiasmus ihre Ideen mitteilten und ihre Meinungen bewusst diskutierten. Die meisten Workshops wurden mit Politikwissenschaftsklassen der 12. oder 13. Jahrgangsstufe durchgeführt, mit Schüler:innen, die über gute Kenntnisse der europäischen politischen Prozesse verfügten und ein ausgewiesenes Interesse an aktuellen Themen und Politik zeigten. Dies ermöglichte einen vertieften Austausch, bei dem die Schüler:innen beispielsweise darüber nachdachten, inwiefern die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten ihre Grundwerte, die Grundsätze der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit nicht respektieren oder ihnen nicht gerecht werden. Die Fälle Polen und Ungarn kamen häufig zur Sprache, um zu veranschaulichen, wie diese Werte in Frage gestellt werden, z. B. in Bezug auf die Einschränkung der Rechte von LGBTQIA+ und der Pressefreiheit oder in Anspielung auf die Beeinträchtigung der Rechtsstaatlichkeit.

Bei der Einhaltung der europäischen Werte stellten die Schüler:innen stellten jedoch nicht nur einzelne Mitgliedstaaten in Frage. In allen Workshops brachten die Schüler:innen die Behandlung von Asylbewerber:innen und Migranten an den europäischen Grenzen zur Sprache, um die aktuellen Mängel der EU zu veranschaulichen. Die gegen die EU-Agentur FRONTEX erhobenen Vorwürfe von Menschenrechtsverletzungen und die Zusammenarbeit der EU mit Akteuren wie der libyschen Küstenwache oder Ländern mit umstrittener Menschenrechtsbilanz wurden von den Teilnehmer:innen problematisiert. Neben der EU und den Menschenrechten wurden von diesen fortgeschrittenen Gruppen auch viele andere Themen angesprochen. So sprachen sich die Teilnehmer:innen beispielsweise für mehr direkte Demokratie in der Europäischen Union aus oder diskutierten über die Möglichkeit einer zukünftigen europäischen Armee und deren Form. Insgesamt waren die Teilnehmer:innen in der Lage, komplexe Herausforderungen differenziert anzugehen und sich respektvoll und konstruktiv mit den Standpunkten der anderen auseinanderzusetzen.

In den Workshops mit Klassen, die nicht auf Politikwissenschaften spezialisiert waren, oder mit jüngeren Jugendlichen nahmen sich die Social Science Works-Mitarbeiter:innen mehr Zeit, um die legislativen und politischen Strukturen der Europäischen Union zu erklären und Fragen zu beantworten. Nichtsdestotrotz erhielten wir positive Rückmeldungen von den Teilnehmer:innen, die anmerkten, dass die Umfragestruktur die Erfahrung unterhaltsam gemacht hatte.

Am Ende jedes Workshops meldeten sich ein oder zwei Vertreter:innen freiwillig oder wurden von ihren Klassenkameraden gewählt, um an der Konferenz mit EU-Parlamentarier:innen teilzunehmen, auf der sie die Ergebnisse des Projekts präsentieren sollten.

Konferenz mit Europaabgeordneten

Die Vorbereitungssitzung der Schülervertreter:innen und die Konferenz mit Europaabgeordneten fanden am 19. November 2021 im ExRotaPrint Projektraum “Glaskiste” in Berlin statt.[1] Die elf Europaparlamentarier:innen für Berlin und Brandenburg wurden sehr früh eingeladen, zunächst um Unterstützung in der Projektantragsphase gebeten und dann offiziell eingeladen, als die Finanzierung Anfang 2021 gesichert war. Von den elf Parlamentarier:innen haben zunächst sieben die Einladung angenommen: Erik Marquardt (Die Grünen), Gabriele Bischoff (SPD), Helmut Scholz (Die Linke), Moritz Körner (FDP), Dr. Christian Ehler (CDU), Dr. Sergey Lagodinsky (Die Grünen), Dr. Nicolaus Fest (AfD). Diese Parlamentarier:innen deckten das gesamte Spektrum der politischen Parteien ab. In der Woche vor der Konferenz beantragte ein Parlamentarier seine virtuelle Teilnahme an der Konferenz, während zwei andere, Erik Marquardt und Dr. Lagodinsky, ihre Teilnahme aufgrund kurzfristiger Terminänderungen absagten. Am Tag der Veranstaltung sagten drei weitere Parlamentarier:innen (Dr. Christian Ehler, Gabriele Bischoff, Dr. Nicolaus Fest) aus unterschiedlichen Gründen ab. Zwei Parteien, die Grünen und die SPD, boten an, weitere Vertreter:innen zu der Konferenz zu entsenden.

Der Konferenz ging am Morgen und frühen Nachmittag desselben Tages ein Vorbereitungsworkshop voraus, an dem 21 Schülervertreter:innen teilnahmen. Bei diesem Treffen stellten die Mitarbeiter:innen von Social Science Works die Ergebnisse der an allen Schulen durchgeführten Umfragen vor. Zur Vorbereitung der Konferenz konzentrierten sich die Schüler:innen auf die Fragen zur Zukunft der Europäischen Union und überlegten, auf welche politischen Bereiche sie sich konzentrieren und mit den EU-Parlamentarier:innen diskutieren wollten. Die Umfrageergebnisse zeigten, dass die Schülerinnen und Schüler die Themen Klimaschutz, Bildung, Sozialpolitik, Justiz und Menschenrechte sowie Migration als zentral erachteten. Die Schülervertreter:innen fügten hinzu, dass sie die Außen- und Sicherheitspolitik diskutieren wollten. Auf der Grundlage dieser Ergebnisse bildeten die Schüler:innen Arbeitsgruppen zu den Politikbereichen Gerechtigkeit und Menschenrechte, Sicherheits- und Außenpolitik, Klimaschutz und Migration sowie Bildung. In diesen Arbeitsgruppen diskutierten sie die wichtigsten Punkte, die sie ansprechen wollten, und bereiteten Fragen an die Abgeordneten vor. Nach einer Mittagspause kamen die Schülerinnen und Schüler in einer offenen Runde wieder zusammen, und jede Arbeitsgruppe präsentierte, was sie erarbeitet hatte, und sammelte die Erkenntnisse und Kommentare der anderen Schüler:innen.

Der Europaabgeordnete Helmut Scholz (Die Linke) und Vertreterinnen der Grünen und der SPD nahmen an der Konferenz teil, technische Schwierigkeiten verhinderten leider die Durchführung des Hybridformats. Die Schülervertreter:innen stellten die von ihnen vorbereiteten Themen und Fragen vor und diskutierten diese in einem offenen Format mit den anwesenden Abgeordneten und Parteivertreterinnen. Es war ein konstruktiver Austausch, bei dem die Schülerinnen und Schüler Fragen zum Stand der Rechtsstaatlichkeit in den europäischen Mitgliedstaaten, zu Menschenrechtsverletzungen innerhalb und außerhalb der EU-Grenzen, zur außenpolitischen Strategie der EU, insbesondere in Bezug auf China, zu den Klimaschutzplänen der EU, zur europäischen Asylpolitik und zur Digitalisierung der Bildung stellten. Insgesamt zeigten sich die Jugendlichen zwar enttäuscht darüber, dass nur wenige Politiker:innen zu der Konferenz erschienen waren, waren aber froh, dass sie eine Plattform erhalten hatten, um ihre Ideen und Anliegen vorzutragen.

II – Ergebnisse der Umfrage

Demographische Eigenschaften

In der Umfrage fragten wir zunächst nach einigen demografischen Merkmalen. Bemerkenswert war, dass sich neben 75 männlichen und 74 weiblichen Teilnehmern nicht weniger als 31 Personen (17,22 % der Schüler, die die Geschlechterfrage beantwortet haben) als “divers” bezeichneten.[2] Das Thema Gender Diversity scheint also bei den Berliner Schüler:innen angekommen zu sein. Wie in den meisten anderen Bereichen der Befragung konnten keine signifikanten Unterschiede zwischen den Antworten von Personen mit und ohne Migrationshintergrund festgestellt werden. Etwa die Hälfte (49,31%) der Befragten gab an, dass ein oder beide Elternteile in einem anderen Land als Deutschland geboren wurden.

Offenheit war auch bei der Frage zu beobachten, wie sich die Schülerinnen und Schüler selbst identifizieren. Die Teilnehmer:innen wurden gebeten, fünf “Identitätskategorien” in der Reihenfolge ihrer Bedeutung zu gewichten: Berliner oder Brandenburger, Deutscher, Europäer, Weltbürger oder etwas anderes. Abbildung 2 zeigt die Ergebnisse für alle Befragten. Um diese Ergebnisse zu berechnen, haben wir der ersten gewählten Identität fünf Punkte und der letzten einen Punkt zugewiesen. Die Kategorie der deutschen Identität erhielt somit fast 30 Prozent aller vergebenen Punkte, fast so viel wie die Identität, die (hauptsächlich) aus Berlin oder Brandenburg stammt. Es folgten die Kategorien Europäer:in (21%), Weltbürger:in (15%) und etwas anderes (5%). Letzteres könnte sich auf Identitäten beziehen, die mit einer Migrationshintergrund, z. B. einem anderen Land, verbunden sind.

Vergleicht man die Ergebnisse dieser Frage zwischen Teilnehmer:innen mit und ohne Migrationshintergrund, so lassen sich Unterschiede feststellen, wie die Abbildungen 3a und 3b zeigen. Von allen Punkten, die der Identität “deutsch” zugeschrieben werden, stammen 71% von Befragten ohne Migrationshintergrund und 29% von solchen mit Migrationshintergrund (beide Gruppen waren, zur Erinnerung, ähnlich groß). Teilnehmer:innen mit Migrationshintergrund fühlten sich näher an der Identität “Berliner:in”, “Weltbürger:in”, “Europäer:in” und/oder “etwas anderes” und damit deutlich weniger “deutsch”.

Kenntnisse über die EU und ihre Institutionen

Wie viel Wissen hatten die Schüler:innen über die Europäische Union? Der allgemeine Wissensstand erwies sich als recht hoch, kann aber, wie bereits erläutert, nicht als repräsentativ für alle Schüler:innen in Deutschland gewertet werden. Wie die Schwierigkeiten während des Rekrutierungsprozesses zeigen, demonstrierten die teilnehmenden Schulen und Schüler:innen bereits ein Interesse an der EU und an Bildungsprojekten im Zusammenhang mit der EU. In den Schulen, die wir besuchten, wurden regelmäßig Projekte zum Thema Europäische Union durchgeführt, und die motivierten Lehrer, die für die Durchführung unseres Projekts verantwortlich waren, betrachteten es als willkommene Ergänzung. Die Schüler:innen, die am meisten von einem solchen Projekt hätten profitieren können, da sie mit Themen in Berührung gekommen wären die ihnen sonst fremd bleiben würden, wurden durch das Desinteresse ihrer Schulen davon abgehalten.

Um ein Gefühl für das Wissen der Teilnehmer:innen über EU-Angelegenheiten zu bekommen, fragten wir unter anderem, wie viele Mitgliedsstaaten die Europäische Union hat, worauf die Teilnehmer:innen aus den Möglichkeiten 45, 27, 6 und 19 wählen konnten. Fast alle Teilnehmer:innen wussten, dass es 27 Mitgliedsstaaten gibt. Eine weitere Wissensfrage lautete: “Wann hat der europäische Einigungsprozess, welcher heute als Europäische Union bekannt ist, angefangen?” Die Teilnehmer:innen konnten einen von vier Zeiträumen auswählen: 1850-1860, 1915-1925, 1945-1955 und 2000-2010. 79 % der Befragten wählten den richtigen Zeitraum, während 10 % der Meinung waren, der Einigungsprozess habe zwischen 1915 und 1925 begonnen, und 7 % wählten den Zeitraum zwischen 2000 und 2010.[3]

Die Schüler:innen wurden auch gefragt, ob die folgende Aussage richtig ist: “Als deutsche:r Bürger:in kann ich bei der Europawahl eine:n niederländische:n Abgeordnete:n wählen.” 41% der 313 Befragten glaubten, dass dies tatsächlich möglich sei. Dieser Logik folgend könnte es dann passieren, dass ein kleines Land wie Belgien keine Vertreter:innen im Europäischen Parlament hat. 86 % der Befragten waren sich jedoch darüber im Klaren, dass dies nicht möglich ist und dass jedes Land eine Anzahl von Sitzen im Europäischen Parlament erhält, die proportional zur Größe seiner Bevölkerung ist.

Die eher technische, aber sicherlich nicht weniger wichtige Frage “Wer schlägt EU-Gesetze vor?” konnte mit einer von vier Möglichkeiten beantwortet werden: die Mitgliedstaaten, die Europäische Kommission, die Abgeordnete des Europäischen Parlaments oder der Europäische Gerichtshof. In den meisten demokratischen Systemen hat das Parlament diese Befugnis, in der EU ist es jedoch die Europäische Kommission, die das Initiativrecht hat und europäische Rechtsvorschriften vorschlägt. Tatsächlich waren sich 108 (42 %) der Befragten dessen bewusst, während 130 (51 %) glaubten, dass das Europäische Parlament Rechtsvorschriften vorschlägt, und 19 Personen (7 %) antworteten mit Mitgliedstaaten.

Politische Partizipation

Inwieweit gaben die Befragten an, dass sie sich politisch beteiligen (wollen) und wie schätzten sie die Möglichkeiten ein, die Entscheidungsfindung in der EU zu beeinflussen?

Obwohl die Schüler:innen während der Workshops ein beeindruckendes Verständnis aktueller gesellschaftlicher und politischer Themen zeigten, stimmte die Mehrheit der Befragten (53,65 %) der folgenden Aussage nicht zu: “Ich glaube einen guten Einblick in die wichtigen politischen Probleme der EU zu haben.” (Abbildung 5). Diese Daten spiegeln eine von den Schüler:innen häufig genannte gefühlte Distanz zur Europäischen Union und ihren Institutionen wider. Viele Schüler:innen fühlten sich von der Europäischen Union nicht angesprochen und äußerten den Wunsch nach mehr an sie gerichteter Kommunikation. Dieses Gefühl der Distanz hing mit der Überzeugung zusammen, dass sie kein Mitspracherecht oder keinen Einfluss auf die Aktivitäten der Europäischen Union haben (56,11 % stimmten in unterschiedlichem Maße der folgenden Aussage zu: “Menschen wie ich haben keinen Einfluss darauf, was die Europäische Union macht.”).

Trotz dieser von vielen Teilnehmer:innen geteilten Distanz zum politischen Verfahren der EU gab eine überwältigende Mehrheit an, dass sie bei der nächsten Europawahl wählen gehen würde. Auf einer Skala von 1 bis 5, wobei 1 für “würde nicht wählen gehen” und 5 für “würde auf jeden Fall wählen gehen” steht, wählten 72,46 % der Befragten die 5, gefolgt von 14,98 % mit der 4. Dies zeigt das Vertrauen in den demokratischen Wahlprozess und unterstreicht die Bereitschaft der Teilnehmer:innen, die ihnen zur Verfügung stehenden demokratischen Beteiligungsmöglichkeiten zu nutzen. Betrachtet man diese Daten in Verbindung mit den geäußerten Gefühlen der Distanz bzw. des fehlenden Einflusses auf das politische Geschehen in der EU, so wird deutlich, dass nicht die mangelnde Bereitschaft zur Teilnahme am demokratischen Prozess, sondern der wahrgenommene Mangel an Möglichkeiten zur Teilnahme die Befragten beschäftigte.

Die Umfrage umfasste auch eine Frage zu den Formen der Beteiligung, die die Befragten für geeignet hielten, um am politischen leben in der EU teilzunehmen. Zur Auswahl standen elf Möglichkeiten, darunter die Stimmabgabe bei den EU-Wahlen, die Teilnahme an EU Online-Konsultation, an einer europäischen Bürgerinitiative, an einer Demonstration oder an einer Internet-Debatte. Weitere Möglichkeiten waren die Mitgliedschaft in einer politischen Partei, einer Interessengruppe oder die Unterstützung einer Petition. Die meisten Schüler:innen zeigten sich besonders zuversichtlich, ihre Stimme bei Wahlen abzugeben. Es folgten die Teilnahme an einer Europäischen Bürgerinitiative und an Demonstrationen als weitere Optionen, die von den Befragten als effektiv eingeschätzt wurden. Auffallend war, dass die Möglichkeiten, Mitglied einer politischen Partei oder einer Interessengruppe zu werden, nicht hoch bewertet wurden. Die Teilnahme an europäischen Online-Konsultationen oder an Debatten in den sozialen Medien wurde von den Befragten noch niedriger eingestuft. Nur sehr wenige zeigten Vertrauen in die neuesten Medien als Raum für einen konstruktiven politischen Austausch. Facebook wurde von kaum einem Teilnehmer genutzt und die beliebten Plattformen Instagram oder TikTok dienten hauptsächlich zur Unterhaltung. Einige Teilnehmer:innen nutzten sie zwar, um sich über aktuelle Themen zu informieren, doch war die Meinung weit verbreitet, dass sozialen Medien sehr einseitig und manipulativ sind. Auch hier ist zu erwähnen, dass unser Projekt vor allem Gymnasiasten mit sehr engagierten Lehrer:innen, oft aus dem Bereich der Politikwissenschaften, erreicht hat. Dieser Kontext mag einen starken Einfluss auf die Medienkompetenz der Schüler:innen gehabt haben. Unsere Erfahrungen in anderen Projekten, die mit anderen Schultypen arbeiteten, unterschieden sich grundlegend (Blokland 2020).

Wahrgenommener Einfluss der Europäischen Union

Die Motivation sich an Entscheidungsprozessen zu beteiligen ist oft höher, wenn deren Einflüsse auf den Alltag wahrgenommen werden. Wir fragten daher nach dem wahrgenommenen Einfluss der Europäischen Union. Eine erste allgemeine Frage lautete: “Wie viel Einfluss hat die Europäische Union auf meinen Alltag”. Abbildung vier zeigt die Ergebnisse dazu. Die meisten Teilnehmer:innen antworteten mit “etwas Einfluss”, der mittleren Antwortmöglichkeit. Es lässt sich jedoch eine leichte Tendenz dahin erkennen, dass die Europäische Union einen alltäglichen Einfluss hat. Interessant ist, dass es sich bei den Befragten, die der Meinung waren, die EU habe “überhaupt keinen Einfluss” auf ihr tägliches Leben, hauptsächlich um männliche Teilnehmer ohne Migrationshintergrund handelte und dass die Option “gewisser Einfluss” vor allem von weiblichen Teilnehmerinnen gewählt wurde.

Die Frage (Grafik 10) “Wie beurteilen Sie den Einfluss der Europäischen Union in den folgenden Bereichen? Umwelt, Migration, Landwirtschaft, Verteidigung, Sport, Kultur, Beschäftigung und Soziales (Mindestlohn, Renten), Wirtschaft und Industrie, Justiz und Grundrechte, Datenschutz” (1 = kein Einfluss; 5 = sehr starker Einfluss) sollte genauere Daten erfassen. Der Einfluss wurde vor allem in den Bereichen “Wirtschaft und Industrie” (4,18) und dann, mit abnehmender Bedeutung, in den Bereichen “Migration” (3,67), “Justiz und Grundrechte” (3,55), “Landwirtschaft” (3,39), “Datenschutz” (3,27) “Verteidigung” (3,26), “Umwelt” (3,1), “Beschäftigung und Soziales” (2,83), “Kultur” und “Sport” (2,26) wahrgenommen. Auffallend ist, dass die Teilnehmer:innen der EU im Bereich der Migration einen starken Einfluss zuschreiben, wenn man bedenkt, wie unterschiedlich die Mitgliedstaaten in den letzten Jahren mit Asylbewerber:innen umgegangen sind. Migration ist vielleicht gerade ein Bereich, in dem die EU bisher wenig Fähigkeit gezeigt hat, sich zu einigen und gemeinsam zu handeln. Auffallend ist auch, dass gerade in den Bereichen, in denen die Befragten einen relativ geringen Einfluss wahrnahmen (Umwelt, Beschäftigung und Soziales), die Teilnehmer:innen sich einen viel größeren Einfluss wünschten, wie weiter unten erläutert wird.

Internationalismus und die Europäische Union als Wertegemeinschaft

Was lässt sich sonst noch aus den Umfrageergebnissen ableiten, insbesondere hinsichtlich der Erwartungen der Befragten an die EU? Zunächst einmal war bemerkenswert, dass die Teilnehmer:innen großen Wert auf internationale Solidarität im Zusammenhang mit der Europäischen Union legten. Kurz gesagt plädierten sie für einen Wohlfahrtsstaat auf europäischer Ebene, in dem den Bürger:innen aus ärmeren Mitgliedsstaaten ein Mindestmaß an Bildung, Gesundheitsversorgung und sozialer Sicherheit durch die EU garantiert wird. Dass reichere Mitgliedsstaaten wie Deutschland dafür zahlen müssten, interessierte die Teilnehmer:innen wenig. Die Schüler:innen waren überzeugt, dass die EU-Mitgliedschaft für Deutschland in jedem Fall von Vorteil ist, da die EU Märkte für deutsche Waren und Dienstleistungen sowie billige Arbeitskräfte, Dienstleistungen und Waren aus anderen Mitgliedstaaten bietet. So lag die durchschnittliche Antwort auf die Aussage “Die Mitgliedschaft in der Europäischen Union ist vorteilhaft für Deutschland” bei immerhin 4,1 (5 entspricht “stimme voll und ganz zu”) mit einer Standardabweichung (SD) von 0,97 und einem Standardfehler des Mittelwertes (SEM) von 1,9. Insbesondere den Berliner:innen kann kaum entgehen, dass in Berlin viele gut ausgebildete oder anderweitig qualifizierte Bürger:innen aus anderen europäischen Ländern leben und arbeiten. So spielen polnische Arbeitskräfte in vielen Bereichen, wie zum Beispiel dem Warenverkehr, eine entschiedene Rolle. Anhand des Vereinigten Königreiches, wo es momentan einen großen Mangel an solchen Fachkräften gibt,  lässt sich erkennen, wie wichtig ihr Beitrag tatsächlich ist.

Internationalismus, Weltbürgertum und Pluralismus kamen in den Antworten auf Fragen zu unterschiedlichen Themen zum Ausdruck. So wurde beispielsweise die Aussage “Kulturelle Vielfalt ist eine Gefahr für das Gleichgewicht der Europäischen Union” von den Teilnehmer:innen in großer Zahl abgelehnt. Auf einer Skala von 1 (stimme überhaupt nicht zu) bis 5 (stimme voll und ganz zu) lag die durchschnittliche Antwort bei 1,14 (SD=0,65; SEM=1,03).

Die Antworten auf die Frage “Was wäre Ihrer Meinung nach für die Zukunft Europas am hilfreichsten?” waren möglicherweise am aufschlussreichsten (Abbildung 9). Die Teilnehmer :innen wurden gebeten, drei Optionen zu wählen. Jede gewählte Option wurde mit einem Punkt bewertet. Auf “Vergleichbare Lebensstandards” entfiel ein Viertel aller vergebenen Punkte, gefolgt von “Stärkere Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten” (17,5 %) und “Eine gemeinsame Gesundheitspolitik” (12 %). Diese Top-Antworten spiegeln weitgehend die Ergebnisse der Eurobarometer-Umfrage zur Zukunft Europas auf EU-Ebene wider und zeigen, dass sich die europäischen Bürger:innen generationen- und länderübergreifend eine engere und vertiefte Zusammenarbeit der Union wünschen. “Eine stärkere wirtschaftliche Integration” rangierte nur an fünfter Stelle (10 %), und ein Thema wie “Energieunabhängigkeit” erhielt nicht mehr als 7 % aller vergebenen Punkte.

Jüngere Generationen, insbesondere die hochgebildeten, legen nach Ansicht mehrerer Forscher:innen mehr Wert auf immaterielle Werte (Inglehart 1997). Diese Resultate wurden auch kritisch betrachtet (Lane 2000: Blokland 2016), aber zumindest in Bezug auf die Europäische Union kann man feststellen, dass unsere Befragten diese Union vor allem als Wertegemeinschaft definieren wollten. Sie wünschten sich auch, dass den Werten in Zukunft mehr Gewicht beigemessen wird, einschließlich der oben erwähnten internationalen Solidarität und der Gleichheit der Lebenschancen.

Ein weiteres Beispiel zur Untermauerung dieser Beobachtung ist die Antwort auf die Aussage “Es gibt Werte, die die Mitgliedsstaaten respektieren müssen, um in der Europäischen Union zu bleiben”. Der Durchschnitt der Antworten lag hier bei satten 4,58 (5 = stimme voll und ganz zu) mit einem SD von 0,89 und einem SEM von 1,16. Gleichzeitig befürworten viele Befragte tendenziell die Erweiterung der Europäischen Union. Der Durchschnitt der Antworten auf die Aussage “Die Europäische Union sollte neue Mitgliedsstaaten aufnehmen” lag bei 2,93 (SD=1,13; SEM=2,31). In diesem Szenario wurde also von den neuen Mitgliedstaaten verlangt und erwartet, dass sie die Grundwerte der Europäischen Union respektieren. Die Aussage “Die Europäische Union sollte bestimmte Mitgliedstaaten ausschließen” erhielt fast genau die gleiche Punktzahl (Avg=2,92; SD=0,37; SEM=0,71). In den deliberativen Diskussionen erweiterten die Teilnehmer:innen die Aussage und bezogen sie auf Mitgliedstaaten wie Polen und Ungarn, die ihrer Meinung nach die europäischen Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit (Gewaltenteilung, Presse- und Vereinigungsfreiheit) und der Menschenrechte (insbesondere in Bezug auf die Behandlung der LGBTQIA+-Gemeinschaft) nicht ausreichend respektieren. Insgesamt wünschten sich die Schüler:innen, dass strengere Maßnahmen gegen diese Mitgliedstaaten ergriffen werden. Der Ausschluss von der Mitgliedschaft wurde jedoch in den Gruppen diskutiert, wobei sich viele Schülerinnen und Schüler gegen diese Maßnahme aussprachen, da sie der Meinung waren, dass sie den in diesen Mitgliedstaaten lebenden Menschen nicht helfen würde, ihre Rechte zu sichern.

Die Antworten auf die Frage “Die Europäische Union sollte Maßnahmen in den folgenden Bereichen Vorrang einräumen” spiegeln ebenfalls die Vorstellung der Teilnehmer:innen wider, dass die EU in erster Linie eine Wertegemeinschaft ist. Die Befragten konnten aus 11 verschiedenen Optionen wählen und wurden gebeten, ihre drei wichtigsten Antworten anzugeben. Klimaschutzmaßnahmen wurden 80 Mal genannt (und erhielten 28 % aller vergebenen Punkte), Beschäftigung und Soziales (Mindestlohn, Renten) 42 Mal (15 %), Bildung 41 Mal (14 %), Justiz und Grundrechte 30 Mal (10 %), Migration 30 Mal (10 %) und Wirtschaft und Industrie 22 Mal (8 %). Obwohl die Landwirtschaft traditionell einen außerordentlich großen Anteil am EU-Haushalt einnimmt (33 % im Zeitraum 2021-2027), wurde sie nur viermal (1,4 %) als wichtiger Politikbereich genannt (siehe Abbildung 7).

Mehr als die Hälfte aller Teilnehmer:innen (58,45 %) sahen in der Klimakrise die größte Herausforderung für die Zukunft der Europäischen Union, mit großem Abstand gefolgt von Migration und Gesundheitsrisiken (siehe Abbildung 8). Die Überalterung der Gesellschaft und die Risiken, die sich aus neuen Technologien (KI, Gentechnik, Digitalisierung) ergeben, bereiteten den Befragten relativ wenig Sorgen.

Bildung war für viele ein sehr wichtiges Thema. Die Mehrheit der Teilnehmer:innen betonte, dass Bildung und Bildungsgleichheit in der EU viel mehr Aufmerksamkeit erhalten sollten. Die durchschnittliche Antwort auf die Aussage “Die EU sollte mehr Einfluss darauf haben, was Kinder in der Schule lernen” lag bei 2,97 (5 entspricht der vollen Zustimmung) mit einem SD von 1,01 und einem SEM von 0,97. Während der Konferenzvorbereitung mit den Schulvertreter:innen entwickelte sich eine eingehende Diskussion zu diesem Thema. Mehrere Teilnehmer:innen waren der Meinung, dass die EU mehr Einfluss auf die nationalen Lehrpläne nehmen sollte, damit es u. a. für Studierende einfacher wird, im Ausland zu studieren oder für Arbeitnehmer:innen, im Ausland zu arbeiten. Die Unterschiede in den Lehrplänen, nicht nur in Bezug auf den Inhalt, sondern auch auf die Qualität, würden diese Entwicklung im Weg stehen. Die Teilnehmer:innen waren der Meinung, dass die Qualität der Bildung in vielen Staaten mit Hilfe der EU verbessert werden sollte, um sicherzustellen, dass die Menschen in der gesamten EU die gleichen Chancen haben, sich in der Schule zu entwickeln. Gleichzeitig wurde darauf hingewiesen, dass die EU im Bildungsbereich nur über geringe oder gar keine Kompetenzen verfüge und dass die Bildungsinhalte stark mit nationalen Identitäten und Präferenzen verknüpft seien, was die Teilnehmer:innen ebenfalls zu respektieren wünschten. Einig war man sich jedoch darin, dass es wünschenswert wäre, wenn alle Schüler:innen in der EU über die Geschichte und die Grundwerte der EU unterrichtet würden. Daran mangelt es derzeit, auch in Deutschland.

Offensiveres Handeln der EU

Die Teilnehmer:innen wünschten sich von der EU in vielen Bereichen ein mutigeres Vorgehen. Die Befragten nannten die Langsamkeit der Entscheidungsfindung, leere Worte und hohle Versprechen, das Fehlen von Visionen, Gemeinsamkeiten und Entschlossenheit als Gründe für ihre Verärgerung. Wir haben oben bereits viele Beispiele dafür erörtert: Die jungen Menschen wünschten sich eine viel entschlossenere Umweltpolitik, mehr Einfluss auf die Gleichheit der sozialen Chancen in ganz Europa (Bildung, Gesundheitsfürsorge, Sozialdienste), ein härteres Vorgehen gegen Mitgliedstaaten, die die Menschenrechte und die politischen Grundsätze der EU nicht respektieren, stärkere Strategien und Gegenmaßnahmen in der internationalen Politik gegen den Einfluss der Vereinigten Staaten, Russlands und Chinas. Europa müsse sich wirtschaftlich und militärisch von diesen Mächten unabhängig machen, um seine eigenen Werte zu sichern. Auch gegen multinationale Konzerne müsse die EU gemeinsam vorgehen: Die durchschnittliche Antwort auf die Aussage “Die EU sollte eine Rolle bei den Verhandlungen mit und der Regulierung von großen multinationalen Konzernen wie Amazon, Google, Shell… spielen” lag bei 3,67 (5 entspricht der vollen Zustimmung). Eine große Zahl der Befragten stimmte sogar der Aussage “Die Europäische Union sollte mehr Einfluss auf die nationalen Grenzen haben” zu (der Durchschnitt lag bei 2,49; SD = 1,13; SEM = 2,1).

Schlusswort

Das Projekt “Unser Europa für alle” vermittelte Social Science Works einen guten Einblick in das Potenzial deliberativer Workshops zur Förderung der demokratischen Beteiligung und der Reflexion über zivilgesellschaftliches Engagement. Obwohl wir im Rahmen dieses Projekts nicht in der Lage waren, die langfristigen Auswirkungen der deliberativen Demokratiebildung auf die Bürgerbeteiligung zu messen, konnten wir die unmittelbaren positiven Auswirkungen des Projekts auf die Teilnehmer:innen beobachten. Viele schätzten den deliberativen Aufbau der Workshops und die abschließende Konferenz sehr. Es war enttäuschend, dass so viele Schülerinnen und Schüler in Brandenburg und an nicht-gymnasialen Schulen in Berlin von ihren Schulen nicht die Möglichkeit erhielten, an dem Projekt teilzunehmen. Diejenigen, die diese Gelegenheit erhielten, beeindruckten uns durch ihre Nachdenklichkeit, ihr Engagement und ihre Bereitschaft und Fähigkeit, die aufgeworfenen Fragen konstruktiv und sachkundig zu diskutieren.

Der von unseren Teilnehmer:innen geäußerte Wunsch nach mehr internationaler Solidarität im Kontext der Europäischen Union war bemerkenswert. Die Schüler:innen plädierten mehr oder weniger für einen Wohlfahrtsstaat auf europäischer Ebene, in dem den Bürger:innen aus ärmeren Mitgliedsstaaten ein Mindestmaß an Bildung, Gesundheitsversorgung und sozialer Sicherheit durch die EU garantiert wird. Sie sahen die Europäische Union explizit als eine Wertegemeinschaft und weniger als ein wirtschaftliches Projekt. Sowohl in Bezug auf die Mitgliedsstaaten als auch auf internationaler Ebene erwarteten die Teilnehmer ein selbstbewussteres und mutigeres Handeln der EU, um die Werte zu schützen, die den Kern der europäischen Idee bilden.

Bibliografie

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Pfeffer, Fabian. 2008. Persistent Inequality in Educational Attainment and its Institutional Context.  European Sociological Review, Vol. 24, No. 5,  pp. 543–565.

Anmerkungen

[1] Die Hygiene- und Sicherheitsmaßnahmen des Tages folgten den “2G plus”-Regeln: Teilnehmer:innen über 18 Jahren mussten Impf- oder Genesungsbescheinigungen vorlegen, und alle Teilnehmer:innen mussten vor dem Betreten des Veranstaltungsortes einen Coronavirus Selbsttest durchführen.

[2] Nicht alle Teilnehmer:innen haben Daten zu ihrer Geschlechtsidentität angegeben.

[3]  Es ist interessant, diese Ergebnisse mit denen eines anderen workshops, in diesem Fall mit älteren Ostdeutschen, zu vergleichen. Unter den Teilnehmer:innen dieses Workshops, die vor der deutschen Wiedervereinigung zur Schule gegangen waren, war die Meinung weit verbreitet, dass die Europäische Union erst etwa 15-20 Jahre alt ist und hauptsächlich auf Angela Merkels Initiative zurückgeht.

Appendix

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Figure 3b
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